* 3 *
Während sich Snorri Snorrelssen in ihrer Kabine verbarrikadierte, saßen Jenna, Sarah und Silas Heap im Palast beim Abendessen. Sarah Heap hätte eigentlich viel lieber in einer der kleineren Palastküchen gegessen, hatte sich aber schon vor geraumer Zeit dem Willen der Köchin beugen müssen, die es für unschicklich hielt, dass Mitglieder der Königsfamilie in der Küche speisten. Nein, auch nicht an einem ruhigen, regnerischen Mittwoch, das komme nicht in Frage, nicht solange sie Köchin sei – »und damit basta, werte Frau Heap.«
Und so saßen heute Abend drei Gestalten verloren im Kerzenschein am oberen Ende einer langen Tafel im riesigen Speisesaal des Palastes. Hinter ihnen zischte und prasselte ein Feuer im Kamin, und ab und zu flog ein Funke in das drahtige und etwas ungepflegte Fell des großen Hundes, der schnarchend und grunzend vor dem Feuer lag, aber Maxie, der Wolfshund, bemerkte es nicht. Neben dem Wolfshund stand müßig die Nachtmahlserviererin. Sie war froh über die Wärme, konnte es aber nicht erwarten, den Tisch abzuräumen und endlich den von Maxie aufsteigenden Gerüchen nach angesengtem Hundehaar und Schlimmerem zu entfliehen.
Doch das Abendessen dauerte eine Ewigkeit. Sarah Heap, die Adoptivmutter Prinzessin Jennas, der Burgerbin, hatte allerhand zu sagen. »Also, ich wünsche, dass du den Palast auf keinen Fall verlässt, Jenna, damit das klar ist. Da draußen schleicht Etwas herum, das Menschen beißt und sie mit der Seuche ansteckt. Du bleibst hier, wo du sicher bist, bis man dieses Etwas gefangen hat.«
»Aber Septimus ...«
»Keine Widerrede. Es ist mir gleich, ob Septimus dich braucht, um diesen unausstehlichen Drachen abzuschrubben. Obwohl, wenn du mich fragst, wäre es viel besser, er würde ihn nicht ganz so oft schrubben – hast du die Schweinerei unten am Fluss gesehen? Ich weiß nicht, was Billy Pot davon hält. Die Drachenmisthaufen sind mindestens drei Meter hoch. Früher bin ich gern am Fluss spazieren gegangen, aber jetzt ...«
»Mum«, sagte Jenna, »ich habe doch gar nicht die Absicht, Feuerspei zu schrubben, kein bisschen, aber ich muss jeden Tag das Drachenboot besuchen.«
»Das Drachenboot kommt auch mal ohne dich aus«, erwiderte Sarah. »Es merkt ja ohnehin nicht, dass du da bist.«
»Doch, Mum. Ganz bestimmt. Außerdem muss es furchtbar für das Drachenboot sein, wenn es aufwacht, und niemand ist da, kein Mensch kommt, tagelang ...«
»Immer noch besser, als wenn nie wieder jemand kommt«, sagte Sarah scharf. »Du gehst mir da nicht hinaus, solange man diese Seuche nicht im Griff hat.«
»Findest du nicht, dass du viel Lärm um nichts machst?«, fragte Silas vorsichtig.
Sarah fand das nicht. »Also ›nichts‹ würde ich das nicht nennen, wenn man das Spital öffnen muss, Silas.«
»Was, den alten Kasten? Es wundert mich, dass der überhaupt noch steht.«
»Uns bleibt keine andere Wahl, Silas. Wir haben mittlerweile zu viele Kranke, die sonst nirgends hinkönnen. Was du vielleicht mitbekommen hättest, wenn du nicht den lieben langen Tag auf dem Speicher hocken und deine Zeit mit albernen Spielen vertrödeln würdest...«
»Burgenschach ist kein albernes Spiel, Sarah. Und jetzt, wo ich eine Figurenkolonie gefunden habe, die zweifellos zu den besten in der Burg gehört – du hättest mal Gringes Gesicht sehen sollen, als ich ihm davon erzählte –, werde ich nicht zulassen, dass mir die Figuren wieder davonlaufen! Aus einem versiegelten Raum kommen sie nicht so schnell heraus.«
Sarah Heap seufzte. Seit sie in den Palast gezogen waren, hatte Silas seinen Beruf als Gewöhnlicher Zauberer praktisch aufgegeben und frönte nur noch verschiedenen Hobbys – und zu ihrem Leidweisen besonders ausgiebig dem Brettspiel Burgenschach.
»Du weißt, dass ich es nicht gerne sehe, wenn du versiegelte Räume öffnest, Silas«, schimpfte Sarah. »Sie sind nicht ohne Grund versiegelt, besonders versteckte Dachkammern. Erst letzten Monat haben wir im Kräuterverein darüber gesprochen.«
Silas lachte spöttisch auf. »Ha! Was verstehen denn diese Kräutertanten von Zauberei? Nichts!«
»Na schön, Silas. Im Moment bist du auf dem Speicher bei deinen blöden Figuren vermutlich sowieso sicherer.«
»Ziemlich«, sagte Silas. »Ist noch Kuchen da?«
»Nein, du hast dir gerade das letzte Stück genommen.« Eine angespannte Stille trat ein, und in der Stille glaubte Jenna in der Ferne Lärm zu hören.
»Hört ihr das?«, fragte sie, stand auf und blickte aus einem der großen Fenster, die auf den Platz vor dem Palast hinausgingen. Die Zufahrt war von Fackeln erleuchtet, und das große Palasttor war, wie immer nachts, verschlossen. Doch draußen vor dem Tor hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Leute schlugen Mülleimerdeckel aneinander und riefen: »Ratten, Ratten, Kampf den Ratten. Ratten, Ratten, Tod den Ratten!«
Sarah trat zu Jenna ans Fenster. »Das sind die Rattenwürger«, sagte sie. »Was wollen die denn hier?«
»Nach Ratten suchen, nehme ich an«, sagte Silas, den Mund voller Apfelkuchen. »Hier gibt es eine Menge. Ich glaube, wir hatten heute Abend eine in der Suppe.«
Die Sprechchöre der Rattenwürger wurden schneller: »Ratzenfalle, Ratzenfalle, ratsch, ratsch, ratsch! Ratzenfalle, Ratzenfalle, ratsch, ratsch, ratsch!«
»Die armen Ratten«, sagte Jenna.
»Dabei sind es gar nicht Ratten, die diese Seuche verbreiten«, sagte Sarah. »Ich habe gestern im Spital geholfen. Die Bisse stammen eindeutig nicht von Ratten. Ratten haben mehr als einen Zahn. Oh, sieh mal, sie rennen von der Straße zu den Unterkünften der Dienstboten. Ach du liebe Güte!«
Bei diesen Worten kam Bewegung in die Nachtmahlserviererin. Sie raffte das Geschirr zusammen, zog Silas das letzte Stück Apfelkuchen unter der Nase weg und stürmte aus dem Saal. Ein Klirren verriet, dass sie die Teller in den Müllschlucker warf, der in die Küche darunter führte. Dann rannte sie in ihr Dienstbotenzimmer, um nach Percy, ihrer Hausratte, zu sehen.
Danach dauerte das Abendessen nicht mehr lange. Sarah begab sich mit Silas in ihren kleinen Salon im hinteren Flügel des Palastes, wo sie einen angefangenen Roman zu Ende lesen musste und Silas fleißig an einem Buch mit dem Titel Die zehn besten Burgenschach-Tipps schrieb, an das er große Hoffnungen knüpfte.
Jenna beschloss, auf ihr Zimmer zu gehen und ebenfalls zu lesen. Sie war gerne für sich, und es machte ihr Spaß, allein im Palast herumzuwandern, ganz besonders nachts, wenn Kerzen in den Korridoren lange Schatten warfen und viele alte Geister erwachten. In der Nacht wirkte der Palast nicht mehr so verlassen wie am Tag und wurde wieder zu einem Ort geschäftigen Treibens. Die meisten Alten zeigten sich Jenna und nutzten gern die Gelegenheit, mit der Prinzessin zu schwatzen, auch wenn viele nicht mehr genau wussten, welche Prinzessin sie eigentlich war. Jenna unterhielt sich gern mit ihnen, obwohl die Geister dazu neigten, jede Nacht dasselbe zu sagen, und sie daher die meisten Gespräche schon nach kurzer Zeit auswendig kannte.
Jenna erklomm die breite geschwungene Treppe zur Galerie, die oben an der Halle entlangführte, und blieb stehen, um mit dem Geist einer alten Gouvernante zu plaudern, die einst zwei junge Prinzessinnen erzogen hatte und auf der Suche nach ihren Schützlingen Nacht für Nacht durch die Gänge streifte.
»Guten Abend, Prinzessin Esmeralda«, grüßte die Gouvernante, die wie stets ein besorgtes Gesicht machte.
»Guten Abend, Mary«, antwortete Jenna, die es längst aufgegeben hatte, Mary zu sagen, dass sie eigentlich Jenna hieß, weil es nicht das Geringste nützte.
»Ich sehe mit Freuden, dass du immer noch gesund und wohlauf bist«, sagte die Gouvernante.
»Danke, Mary«, erwiderte Jenna.
»Sieh dich vor, mein Kind«, empfahl die Gouvernante wie immer.
»Das werde ich«, antwortete Jenna wie immer und ging ihres Weges. Bald bog sie von der Galerie in einen breiten, von Kerzen erleuchteten Korridor ab, an dessen Ende sich die große Flügeltür befand, die in ihr Zimmer führte.
»Guten Abend, Sir Hereward«, grüßte sie den alten Hüter des Königlichen Schlafgemachs, einen arg zerzausten und verblichenen Geist, der seit rund achthundert Jahren oder schon länger hier Posten stand und gar nicht daran dachte, in den Ruhestand zu treten. Sir Hereward fehlte ein Arm und ein Gutteil seiner Rüstung, denn sein Eintritt ins Geisterdasein war das Resultat einer der letzten Landschlachten zwischen der Burg und der Stadt Port gewesen. Er zählte zu Jennas Lieblingsgeistern, und wenn er wachte, fühlte sie sich sicher. Der alte Rittersmann war ein freundlicher Geselle, erzählte gern Witze und schaffte es im Allgemeinen, sich nicht allzu oft zu wiederholen, was für einen Alten ungewöhnlich war.
»Guten Abend, holde Prinzessin. Kennen Sie den: Was ist der Unterschied zwischen einem Elefanten und einer Banane?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Jenna lächelnd. »Und was ist der Unterschied zwischen einem Elefanten und einer Banane?«
»Also, Sie werde ich lieber nicht für mich einkaufen schicken. Ha-ha-ha!«
»Oh ... sehr witzig! Ha-ha!«
»Freut mich, dass er Ihnen gefällt. Hab ich mir gedacht. Gute Nacht, Prinzessin.« Sir Hereward neigte kurz den Kopf und nahm Haltung an, glücklich, wieder Dienst zu tun.
»Gute Nacht, Sir Hereward«, sagte Jenna, öffnete die Tür und schlüpfte in ihr Zimmer.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie sich an das riesige Zimmer im Palast gewöhnt hatte, nachdem sie zehn Jahre lang in einem Wandschrank geschlafen hatte, aber inzwischen liebte sie es, besonders an den Abenden. Es war ein großer, länglicher Raum mit vier hohen Fenstern, die auf den Palastgarten blickten und die Abendsonne einfingen. Heute freilich, an diesem kalten Herbstabend, zog Jenna die schweren roten Samtvorhänge vor, und das Zimmer wurde in tiefes Dunkel getaucht. Sie ging hinüber zu dem großen Kamin neben dem Himmelbett und entzündete die darin gestapelten Holzscheite mit Hilfe des Feuerzaubers, den ihr Septimus zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Als der warme Schein der züngelnden Flammen das Zimmer erfüllte, setzte sie sich aufs Bett, wickelte sich in die Federdecke und schlug ihr historisches Lieblingsbuch, Die Geschichte unserer Burg, auf.
Nach kurzer Zeit war sie so ins Lesen vertieft, dass sie die große, hagere Geistergestalt nicht bemerkte, die hinter den dicken Vorhängen, die ihr Bett umgaben, hervortrat. Die Gestalt blieb reglos stehen und beobachtete sie mit einem missbilligenden Ausdruck in ihren dunkelblauen Knopfaugen. Jenna fröstelte in der plötzlichen Kälte, die der Geist verströmte, und zog die Decke enger um sich, schaute aber nicht auf.
»Ich würde mir die Mühe sparen, all den Unsinn über den Hansebund zu lesen«, schnitt eine schrille Stimme hinter Jenna durch die Luft. Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie in die Höhe, ließ das Buch fallen und wollte gerade Sir Hereward rufen, als ihr eine eiskalte Hand den Mund zuhielt. Von der Berührung des Geistes strömte eisige Luft in ihre Lungen, und sie bekam einen Hustenanfall. Den Geist ließ das ungerührt. Er hob das Buch auf und legte es neben Jenna, die jetzt wieder saß und nach Atem rang, aufs Bett.
»Schlag Kapitel Dreizehn auf, Enkeltochter«, befahl der Geist. »Über das gemeine Kaufmannsvolk brauchst du nichts zu lesen, das ist vergeudete Zeit. Die einzige Geschichte, die es zu studieren lohnt, ist die Geschichte der Könige und Königinnen – vorzugsweise die Geschichte der Königinnen. Du findest mich auf Seite zweihundertundzwanzig. Im Großen und Ganzen ein ganz ordentlicher Bericht über meine Regierungszeit, wenn man einmal von ein oder zwei... äh ... Missverständnissen absieht, aber schließlich war der Verfasser nicht von Adel – was kann man da schon erwarten?«
Jenna hatte sich von ihrem Hustenanfall so weit erholt, dass sie den ungebetenen Gast genauer in Augenschein nehmen konnte. Es war tatsächlich der Geist einer Königin, und einer alten obendrein, wie an dem altmodischen Kleid und der gestärkten Halskrause zu erkennen war. Sie wirkte überraschend lebensecht für ihr Alter und stand gerade und aufrecht da. Ihr eisengraues Haar war zu zwei straffen Zöpfen geflochten, die über ihren ziemlich spitzen Ohren zu Schnecken zusammengerollt waren, und auf ihrem Kopf saß eine einfache, schlichte Krone aus Gold. Ihre dunkelblauen Augen durchbohrten Jenna mit einem missbilligenden Blick, der ihr sofort das Gefühl gab, etwas verbrochen zu haben.
»W... wer sind Sie?«, stammelte Jenna.
Die Königin klopfte ungeduldig mit dem Fuß. »Kapitel Dreizehn, Enkeltochter. Sieh in Kapitel Dreizehn nach, habe ich gesagt. Du musst zuhören lernen. Alle Königinnen müssen zuhören lernen.«
Jenna konnte sich nicht vorstellen, dass diese Königin jemandem zuhörte, sagte aber nichts. Etwas anderes gab ihr zu denken. Die Besucherin hatte sie Enkeltochter genannt. Und das schon zum zweiten Mal. Dieser grässliche Geist konnte doch unmöglich ihre Großmutter sein, oder? »Aber ... aber warum nennen Sie mich ständig Enkeltochter?«, fragte sie in der Hoffnung, sich verhört zu haben.
»Weil ich deine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter bin. Aber du darfst mich Großmama nennen.«
»Großmama!«, rief Jenna entgeistert.
»Jawohl. Das dürfte schicklich genug sein. Ich erwarte nicht meinen vollen Titel.«
»Wie lautet denn Ihr voller Titel?«, fragte Jenna.
Die Königin seufzte ungeduldig, und Jenna spürte, wie ihr der eisige Geisterhauch das Haar zerzauste. »Kapitel Dreizehn. Ich sage es nicht noch einmal. Ich merke schon, ich bin keinen Augenblick zu früh gekommen. Du brauchst dringend Führung und Unterweisung. Deine Mutter hat es sträflich versäumt, dir eine königliche Erziehung und gute Manieren angedeihen zu lassen.«
»Mum ist eine richtig gute Lehrerin«, widersprach Jenna empört. »Sie hat überhaupt nichts versäumt.«
»Mum ... Mum? Wer ist diese ... Mum?« Die Königin brachte es fertig, gleichzeitig missbilligend und verwirrt dreinzuschauen. Tatsächlich hatte sie im Lauf der Jahrhunderte die Kunst, jeden möglichen Gesichtsausdruck mit Missbilligung zu vermischen, so vervollkommnet, dass sie, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht mehr in der Lage war, beides auseinanderzuhalten. Aber sie wollte nicht. Sie war mit Missbilligung durchaus zufrieden, besten Dank.
»Mum ist meine Mum. Ich meine, meine Mutter«, sagte Jenna gereizt.
»Und wie lautet ihr Name, wenn ich fragen darf?«, fragte die Königin, auf Jenna herabschauend.
»Das geht Sie nichts an«, erwiderte Jenna ärgerlich.
»Lautet er zufällig Sarah Heap?«
Jenna antwortete nicht. Sie funkelte den Geist zornig an und wünschte, er würde verschwinden.
»Nein, ich werde nicht verschwinden, Enkeltochter. Ich habe an meine Pflicht zu denken. Wir beide wissen, dass diese Sarah Heap nicht deine richtige Mutter ist.«
»Für mich schon«, grummelte Jenna.
»Deine Meinung ist unmaßgeblich, Enkeltochter. Die Wahrheit ist, dass deine richtige Mutter oder vielmehr ihr Geist oben im Turm sitzt und deine königliche Erziehung vernachlässigt, sodass du mich mehr an eine gemeine Dienstmagd erinnerst als an eine richtige Prinzessin. Es ist eine Schande, eine wahre Schande, und ich habe die Absicht, dies zu korrigieren, zum Wohle dieses bedauernswerten, trostlosen Ortes, zu dem meine Burg und mein Palast verkommen sind.
»Das ist nicht Ihre Burg und Ihr Palast«, widersprach Jenna.
»Da irrst du dich, Enkeltochter. Sie waren früher mein und werden bald wieder mein sein.«
»Aber ...«
»Unterbrich mich nicht. Ich werde jetzt gehen. Du müsstest längst im Bett liegen.«
»Ist doch nicht wahr«, sagte Jenna ungehalten.
»Zu meiner Zeit sind alle Prinzessinnen um sechs zu Bett gegangen, bis sie Königin wurden. Ich selbst bin bis zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag jeden Abend um sechs schlafen gegangen, und es hat mir nicht im Geringsten geschadet.«
Jenna sah den Geist erstaunt an. Dann, ganz plötzlich, lächelte sie, denn sie dachte daran, wie erleichtert alle anderen im Palast aufgeatmet haben mussten, damals, vor all den Jahren, wenn es sechs Uhr abends schlug.
Die Königin deutete ihr Lächeln falsch. »Aha, wirst du endlich vernünftig, Enkeltochter? Ich verlasse dich jetzt, damit du dich schlafen legen kannst, denn ich habe noch wichtige Geschäfte zu tätigen. Wir sehen uns dann morgen. Du darfst mir einen Gutenachtkuss geben.«
Jenna blickte so entsetzt, dass die Königin einen Schritt zurücktrat und sagte: »Na, wie ich sehe, musst du dich erst noch an deine liebe Großmama gewöhnen. Gute Nacht, Enkeltochter.«
Jenna antwortete nicht.
»Ich sagte Gute Nacht, Enkeltochter. Ich gehe erst, wenn du mir eine gute Nacht gewünscht hast.«
Es folgte eine angespannte Stille, bis Jenna den Anblick der spitzen Geisternase nicht länger ertragen konnte. »Gute Nacht«, sagte sie kühl.
»Gute Nacht, Großmama«, korrigierte der Geist.
»Ich werde Sie niemals Großmama nennen«, sagte Jenna und sah mit Erleichterung, dass der Geist zu verblassen begann.
»Und ob du wirst«, tönte die schrille Stimme des Geistes aus dem Nichts. »Und ob du wirst ...«
Jenna ergriff ein Kissen und warf es wütend nach der Stimme. Es kam keine Antwort. Der Geist war fort. Tante Zeldas Rat beherzigend, zählte Jenna ganz langsam bis zehn, um sich zu beruhigen, dann nahm sie Die Geschichte unserer Burg zur Hand und blätterte rasch durch die dicken gelben Seiten bis zu Kapitel Dreizehn. Die Überschrift des Kapitels lautete »Königin Etheldredda die Schreckliche«.